Der nächtliche Plagegeist scheint endlich ausgezogen zu sein und hat sich auf sein natürliches Umfeld zu besinnt! Auf jeden Fall ist keine Spur mehr von der Maus in Martha zu sehen oder zu hören.
Pünktlich um 8 stehen wir bei Dalex Autoservice in Fort Nelson vor der Tür, um wie angesagt eine Stunde später glücklich von dannen fahren zu können.
Der HW 97(Alaska HW) zieht sich auch heute schlängelnd durch das Land. Oftmals bleiben wir auf gleicher Höhe, dann hat es wieder Steigungen und Senken. Jo macht es Spass, hier zu fahren. Seltener sind heute allerdings die Wildtiere, die wir gestern noch zahlreicher gesehen haben. Wir verlassen immer mehr die rauchige Gegend, die sich auch nach Ford Nelson noch weiter ausgebreitet hat. So langsam sticht die Sonne immer mehr durch den wolkigen Himmel.
Nach zwei Stunden Fahrt treibt uns der Hunger zu einer Pause. Es gibt eine Recreation Area am Prophet River, die wir dafür ansteuern. Diese sieht jedoch gänzlich verlassen aus. Wir drehen eine Runde, um vielleicht den Fluss sehen zu können. Fehlanzeige. Nur ein einsamer Camper steht hier. «Das ist doch Rico?!» kommt es aus Ma’s Munde. Und tatsächlich treffen wir unseren jungen Freund hier wieder, wie er sich lässig der Sonne entgegenstreckt. Wir geniessen unser Frühstück und den von Rico offerierten Kaffee.
Rico weiss noch nicht genau, wohin es ihn verschlagen wird. Ma empfiehlt ihm, doch dort anzufragen, wo wir Unterschlupf gefunden haben: Ein HipCamp in einem Boreal Garden. «Vielleicht sehen wir uns heute Abend wieder.» So trennen sich unsere Wege. Da wir immer langsam unterwegs sind, bedeutet eine Tagesetappe mit über 300 km um die 5-6 Stunden Fahrzeit. Mit den Pausen schleicht ein ganzer Tag an uns vorbei.
Wir sehen, dass immer mehr Schotterstrassen rechts und links vom HW abgehen. Als JoMa genauer hinsehen entdecken sie, dass diese Strassen zu Erdgasförderstationen gehen. Dies erklärt auch, warum es immer wieder Schwertransporter und Fahrzeuge der Erdgasgesellschaften auf der Strasse hat. Die immensen Vorkommen an Erdgas sowie Erdöl haben Kanada zu einem wirtschaftlichen reichen Staat gemacht.
Pünktlich zum Apéro fahren wir als HipCamp-Gäste bei Garry und Paula und ihrem bunten Garten vor. Kaum haben wir uns begrüsst, steht auch Rico schon vor uns!
Garry war früher Chief und ist heute einer der drei Councilors der Doig River First Nation, in ihrer eigenen Sprache «Tsááʔ çhé ne dane» genannt. Sie sind Nachfahren der Dane-zaa, die seit Tausenden von Jahren in der Peace River Region leben. Garry ist ausserdem ein multidisziplinärer Designer und Künstler, traditioneller «Song-Keeper» und Trommler, und nicht zuletzt auch Unternehmer… Eine schillernde Persönlichkeit!
Mit seinem Wissen um die Traditionen der First Nations und seinen Bemühungen um Wiedergutmachung webt Garry eine spannende, lehr- und bilderreiche Geschichte von über 12’000 Jahren bis in die heutige Zeit. Wie die Geschichte des «dog who pissed on the arrow», wie ein Hund vor mehr als 12’000 Jahren an Pfeil und Bogen eines wichtigen Stammeskriegers pinkelte und so für das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft verantwortlich war. Es war die Zeit einer grossen friedlichen Zusammenkunft mehrerer Stämme, in der 2 Friedenspfeifen im Tipi ihre Runden machten. Man ging unbewaffnet zu diesen Zeremonien und legte seine Waffen draussen ab. Ein Krieger kam etwas zu spät und steckte seinen Pfeil und Bogen etwas nachlässig vor dem Zelt in den Boden. Während der Zusammenkunft pinkelte ein Hund an seine Waffen. Es kam zu einem heftigen Streit mit dem Hundebesitzer, der darin gipfelte, dass sich die Stämme in alle Windrichtungen verstreuten. Dies werde dadurch belegt, dass viele Meilen von hier entfernt 500 Paar Mokassins gefunden wurden, die eindeutig dem Volk der Doig River First Nations zugeordnet werden können.
Garry führt uns später am Abend zum Tse’k’wa (Charlie Lake Cave), einer nationalen, historischen Stätte bzw. eine Höhle, vor der durch wissenschaftliche Grabungen Zeugnisse dieser eigenen Vergangenheit gefunden wurden und das bis zur letzten Eiszeit zurück (12’500 Jahre)! Für die First Nations, wie für viele andere Naturvölker auch, hat jedes Teil auf der Welt sein eigenes Leben, welches mit den anderen Dingen verknüpft ist.
In seiner Funktion als Chief seines Tribes der Doig River First Nation führte Garry einflussreiche Gespräche mit der Regierung um Landrückgaben und Wiedergutmachungen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das von den First Nations geraubte Land den Kriegsveteranen zum Dank geschenkt. Nun soll die Regierung dieses Land zurückgeben.
Eine der grossen Erdgasgesellschaften hat vor wenigen Jahren fast 400’000 CAD als Abgeltung für Land, das wegen eines Staudamms verloren geht, abgegolten – dies nach langen und zähen Verhandlungen mit Garry. Dies sei ein wichtiger Grundstein für die Begegnungsstätte Tse’K’wa, die sie hier am Ort der Öffentlichkeit zugänglich machen möchten. Er möchte die Geschichten der einzelnen Tribes (Stämme) zu einer ganzen zusammen fügen. Sie wollen eine Art Museum bauen in dem SIE ihre EIGENE Geschichte auf IHRE Art und Weise ausstellen.
Garry führt uns alle zusammen auf einen Geschichtspfad, der in jener Höhle endet, vor der die wissenschaftlichen Ausgrabungen der Anfang von Allem war. Wir fühlen uns sehr geehrt, dass er uns in der Höhle eines ihrer alten, überlieferten Dreamer Songs singt. Andächtig lauschten wir in der Dunkelheit seinem Gesang.
Nach einem sehr schmackhaften Kräutertee, deren Kräuter an diesem heiligen Ort bei der Höhle gesammelt wurden, liegen JoMa die Köpfe voller Geschichten, Inspirationen und Visionen müde und schlaftrunken in Martha.
Morgen geniessen wir es, hier zu verweilen. Es ist schön, nicht immer auf Achse sein zu müssen.
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